Da standen gestern Zehntausende im Ernst-Happel-Stadion in Wien zusammen für die Ukraine („We stand with Ukraine“) und lauschten den von der cash cow der öffentlich-rechtlichen Radioprogramme Österreichs, also von Ö3, ohnedies permanent promoteten „Aushängeschildern“ zeitgemäßer österreichischer Unterhaltungsmusik.
Ich würde meinen, da war auch gehörig Druck im Spiel. Die Managements derjeniger, die mit ihren Liedern halt auch weiter in „heavy rotation“ auf dem Sender gespielt werden wollen, mussten sich erweichen lassen und ihre Schützlinge da auf die Bühne schicken. Marco Wanda, Lead-Sänger der gleichnamigen Formation, betont dazu, dass da wohl niemand lange in Sachen Zusage überlegt habe. Man wünschte sich, das Nachdenken wäre nicht so zu kurz gekommen.
Denn man bewegt zu Spitzenzeiten einer durchs Land rauschenden Omikronwelle Menschen um den symbolischen Eintrittspreis von 19,91 Euro (1991 als Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine) zu einem Mega-Konzert, dessen Erlöse abzüglich aller Aufwände karitativer Verwendung zugeführt werden wollen. Warum dieser Umweg? Das rufe ich diesem Event und allen, die sich dafür engagieren, zu. Die Etiketten, die zuvor schon vergeben werden, greifen hoch, von „historisch“ wird gesprochen. Entschuldigung! Historisch ist und bleibt Bob Geldofs „Live Aid“ (13. Juli 1985, London und Philadelphia). Und man lobte sich auch selbst für die Einzigartigkeit des Wiener Konzerts in Europa. Ich würde meinen, das kann ja auch ganz andere, triftigere Gründe haben, warum man andernorts nicht in Laune für ein Mega-Open-Air-Konzert mit einem Line-Up ist, wie dies unter anderen Umständen für ein dreitägiges Musikfestival ausreichen würde.
Ich nenne das Betroffenheitskitsch. Ich habe nichts gegen Zeichen der Solidarität. Auch in mein Porträtfoto auf Facebook montierte ich am 24. Februar 2022 sehr gerne die blaue-gelbe Flagge. Mich stören Inszenierungen rund um eine Solidaritätsgeste, die andere Zwecke verfolgen, und seien es jene, sich instrumentalisieren zu lassen und vom Wind der immens angeworfenen Promotion-Orgel fürs eigene Vorankommen in der Karriere zu profitieren. Gagenverzicht ist ja schön. Das Zurückstehen in wirtschaftlichen Fragen des Musikbusiness findet mehr als Ausgleich im reichen Wachstum eines symbolischen Kapitals, das sich die Stars mit „sozialem“ Engagement kreieren.
Wir haben allerdings den Gipfel dessen, was hier in große Erzählungen gebracht werden kann, weder erreicht noch überschritten. Im Mai wartet in Turin die diesjährige Ausgabe des Eurovision Song Contest auf uns. Besonders schlaue Buchmacher wussten dazu schon in der vergangenen Woche, dass die Ukraine mit ihrem Song ein sehr heißer Kandidat auf den Sieg beim kontinentüberspannenden Wettsingen sein wird. Niemanden wird es wundern, zahlreiche Darbietungen mehr oder weniger interessanter musikalischer Beiträge werden abgespult. Der österreichische nimmt sich dabei rasch heraus und wird wohl schon im Semifinale in der Versenkung der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Dann irgendwann mitten in der Nacht kommt die Runde der Jurywertungen aus fast ganz Europa. Immer wieder wird mit kunstvoller Verzögerung der Aufsage-Gockel der jeweiligen Fernsehanstalt krähen: „And twelve points go to – [jukrään]!“.
Die gewinnen das haushoch. Es geht nicht um Musik, Unterhaltung oder – huch! – gar vielleicht Kunst? Es geht um eine große solidarische Geste. Musik wird für Politik instrumentalisiert. Das Land des Song-Contest-Siegs trägt im nächsten Jahr den großen Zirkus aus. Das kostet dem jeweiligen host-broadcaster stets eine gewaltige Stange Geld. Und das braucht Infrastruktur. Die ist zerstört. Geld ist auch keines da. Die Ukraine wird das nicht leisten können. So, also wenn sie (hoffentlich bald) befriedet ist und (hoffentlich) souverän bleibt. Oder auch so, wenn Russland auf ukrainischem Territorium das Sagen hat. Dann wäre (in)direkt sogar Wladimir Putin Gastgeber für der Welt größten populären Sänger*innen-Wettstreit.
Sicher, laut Reglement der European Broadcasting Union ist möglich, dass ein anderes Land übernimmt. Welches würde dies wollen? Und was würde das in der Politikschablonenwelt des Eurovision Song Contest bedeuten? Wer steht dann für die Ukraine?
Foto: Symbolbild – Pexels/Free Photo Library
Kategorien:Musik
Betroffenheitskitsch – dem ist tatsächlich nichts mehr hinzuzufügen.
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