Gesundheit

Die eigene Überzeugung zurückstellen

Im Spätherbst 2021 nahmen die Salzburger Nachrichten mit einem Zitat aus einer Rede des österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen einen Ball auf und spielten diesen durch eine durchwegs interessante Bericht- und Interviewreihe. Es ging darum, Pläne zu schmieden, wie man „den Riss heilen“ könne.

Gemeint ist damit die in ihrer Breite wachsende Grenze einer anscheinend nur noch schwierig zu überwindenden Leere zwischen zwei Lagern: hier eine Mehrheit, die sich evidenzbasiert an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, die den politischen Entscheidungen folgt, die als Bürgerinnen und Bürger der Pflicht nachkommt; dort die, die regelmäßig an Wochenenden sowieso, aber auch zunehmend werktags durch die Straßen ziehen. Die sich eine eigene Realität aufgebaut haben, deren psychische Grundstruktur – ich argumentiere hier mit Richard David Precht, der dies schon Ende April 2021 so analysierte – nicht darin besteht, die Wahrheit herauszufinden, sondern Recht haben zu wollen. Darin finden sie ihr Selbstwertgefühl. Dadurch werden sie niemals von ihrer Sicht der Dinge abweichen – logisch, dies nähme ihnen sofort ihren Selbstwert.

Der Aufgabe also, diesen „Riss zu heilen“, der die Grenze zwischen den beiden Gruppen bildet und der ihre Ränder so ganz und gar nicht mehr räumlich nahe halten und somit rasch wieder verbindbar machen konnte, spürten die Journalistinnen und Journalisten der Salzburger Nachrichten nach. Sie baten dabei auch ihre Leserinnen und Leser um Beiträge, Sichtweisen, Erfahrungen, Anregungen. Man durfte einen Text einsenden, tausend Zeichen lang. Wenn die Redaktion entschied, ihn zu veröffentlichen, bekam er prominenten Platz. Auf der Titelseite einer Ausgabe des Blatts rechts oben: Dort, wo leitende Gedanken und Meinungen das Auge jeder und jedes Lesenden rasch anlocken. Möglichst viele sollten diese Zeilen erreichen.

Auch ich brachte eine Erfahrung ein. Mein Text wurde allerdings nicht ausgewählt. Wohl zu viele für den dramaturgischen Bogen, den die Tageszeitung ohnedies über einige Wochen hinweg gespannt hatte, wurden der Redaktion vorgelegt. Das macht nichts. Ich gebe meiner Erfahrung heute einfach hier Platz und Resonanz. Ihr Schlusssatz bleibt ein Wunsch in Möglichkeitsform an das junge neue Jahr. Ich gab meinen tausend Zeichen den Titel, den ich heute als headline für diesen blog-post verwende:

Es war in meinem Soziologie-Studium fordernd, aber lehrreich fürs ganze Leben. Im Ungestüm des eigenen Anspruchs an eine Veränderbarkeit von Gesellschaft bewegte ich mich so wie auch mein engeres Umfeld an Studienkolleg:innen lieber in einem Theorienfeld, das uns sympathisch war. In einem Sommercamp arbeiteten wir zu Globalisierungstheorien. Ein Professor, Uwe Schimank, forderte uns heraus. Wir sahen uns Fragestellungen von gesellschaftlicher Bedeutung auch anders an, gemeint: in den Perspektiven und Denkpositionen jener Ansätze, mit denen man aus Diskrepanz mit der eigenen Werte-Welt sicher nichts zu tun haben wollte. Wir wechselten die Perspektiven. Wir stiegen in Rollen ein, sahen durch die „fremden“ Augen auf Sachverhalt. Von der anderen Seite. Die eigene Überzeugung zurückstellen, den Perspektivenwechsel wagen, und dabei auch wahrnehmen, worauf sich diese Ansichten beziehen: Das braucht Anstrengung, lohnt sich, es versachlicht. Für unsere Gegenwart wünschte ich mir das sehr.

Foto: Späte Nachmittagsstimmung am 2. September 2021, Budy/Polen

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