Sport

Schmerzen im Spitzensport

Morgen Sonntag vor einem Jahr stand Österreich früh auf und erlebte eine Überraschung. Wem zur Morgenroutine zählt, sich noch schlaftrunken über die aktuelle Nachrichtenlage in der Welt zu informieren, war binnen einer Sekunde hellwach. Im olympischen Straßenradrennen der Frauen lag eine Österreicherin an der Spitze. Ich war und bin kein Freund des Frühfernsehens, schaltete aber ein und verfolgte live und leidenschaftlich den Kampf der Anna Kiesenhofer um Gold, das sie schlussendlich auch gewann. Nach überquerter Ziellinie lag die Sportlerin auf dem Asphalt, ein Schrei entfuhr ihr, heftig atmend hob und senkte sich ihre Brust. War es ein Weinen? Vor Freude, aus Schmerz?

Unprätentiös wie kaum eine andere Sportlerin oder ein anderer Sportler erzählte sie Stunden später im Fernsehinterview davon, über wie viele Kilometer ihr jeder Tritt in die Kurbel Schmerzen verursacht hatte und dass sie nach Überqueren der Ziellinie gar nicht wahrnehmen vermochte, ob sie jetzt noch weiter in die Pedale treten müsse, oder eben nicht.

Mir schien diese Ehrlichkeit damals wie das Öffnen einer Tür zu einer wichtigen und längst zu führenden Diskussion über die (Schmerz)Grenzen im Leistungssport. So viel dazu gleich vorab: Die Tür fiel wieder zu. Offen bleibt die Frage, was im Spitzensport heute wirklich (noch) körperlich zumutbar ist. Wenige Tage danach ging ein Foto der Handflächen der österreichischen Ruderin Magdalena Lobnig ganz kurz durch die Medienwelt, ihre Haut eine Landkarte der immensen Belastung, gegerbt, verhornt (eine Notwendigkeit für diesen Sport, ließ ich mir sagen!), mit Schwielen bedeckt, von einer gelblichen bis bräunlichen Färbung. Es war, als blickte man in die Hände eines Menschen, der ein ganzes Arbeitsleben lang hart angepackt hatte, aber nicht in die einer 31-jährigen Sportlerin, die zuletzt wegen einem allergischen Asthma eine Auszeit nehmen musste.

Ich erinnere mich an den Abfahrtsschihelden aus Öblarn nahe Schladming, Klaus Kröll, der mit einem lädierten Mittelfußknochen zwar keinen Schritt gehen konnte, aber dennoch in den Schischuh stieg, um Training und Rennen zu bestreiten. Oder nochmals zurück zu Olympia 2021 in Tokyo: Der Sieger im Herren-Triathlon, der Norweger Kristian Blummenfelt, absolvierte in der Hitze des vom Ambiente her unattraktivsten Triathlon überhaupt seine eineinhalb Kilometer Schwimmen, vierzig auf dem Rad und zehn laufend in einer Stunde 45 Minuten und vier Sekunden. Und konnte danach nicht einen einzigen Schritt mehr gehen, geschweige denn stehen. Er musste im Rollstuhl aus dem Zielbereich geschoben werden!

„citius, altius, fortius“ galt als Motto der Olympischen Spiele bis zum 20. Juli 2021, da wurde es um „communiter“ ergänzt, wodurch der Ruf nach Steigerung „schneller, höher, stärker/mutiger“ nach einem Gedankenstrich mit dem Wort „gemeinsam“ ergänzt worden ist. Davon, dass man sich dabei körperlich ruinieren muss, sagt die Losung nichts. Das resultiert wohl aus dem Druck jener, die durch ihre Finanzierung Profi-Sport ermöglichen und Rekorde jenseits des menschlich Machbaren sehen wollen. Bei Olympia allerdings ist das kommunikative Feld für diese Sponsoren eingeschränkt, leider nicht aus Gründen von Grenzziehung, wie sie in einer Definition von Leistbarkeit möglich oder nötig wäre, sondern weil das International Olympic Comittee (IOC) sein eigenes, äußerst lukratives Geschäft bei den Spielen bestreiten will.

Der Amateurstatus für teilnehmende Sportlerinnen und Sportler ist längst passé, Anna Kiesenhofer gehört zu den wenigen, die sich diesen behalten haben. Auch das garantiert nicht einen Verbleib diesseits der Schmerzgrenze, über die der Spitzensport Athletinnen und Athleten treibt. Und über die zu sprechen mehr denn je geboten ist.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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