Ich laufe heute bewusst Gefahr, auf dem Terrain nostalgisch gestimmter Besserwisserei auszurutschen. Der Boden wurde möglicherweise zusätzlich mit dem Mittel „Früher war alles besser“ aufpoliert. Noch dazu geht dieser Text am Vorabend zu meinem halbrunden Geburtstag online. Es kann also nur schiefgehen.
Ich stoße mich in diesem Frühjahr 2022 wieder an einer empirischen Sozialforschung, mit der der allseits beliebte Radiosender Ö3 – mein Lebensbegleiter, wir sind nahezu gleich alt, das Radioprogramm ist ein paar Monate jünger als ich – in der Generation der jetzt Jugendlichen zu punkten versucht. Das Kriegsereignis in unmittelbarer Nachbarschaft versteht sich in dieser Befragung als ein Ereignismanöver, das die Pandemie (fast genau zwei Jahre nach dem ersten Corona-Fall in Österreich) als Störung eines gesicherten Alltags in ruhigem Lebensfluss abgelöst hat. In der Diktion der durchs Radioprogramm protegierten Forschung werden alle, die sich in der Kategorie Jugend befinden, also die 14- bis 29-Jährigen, zu einer Generation „Krise“. Zuvor noch, also am Beginn der immer noch nicht durchgestandenen Pandemie, klebte man der Jugend die Adjektivetikette „verlorene“ zuerst vor, später dann „Corona“ nach den Begriff „Generation“. Dass schubladisierende Wirkungen der allgemeinen Stimmungslage der Jugend ganz und gar nicht förderlich sind, erkannte Ö3 dann sehr wohl und wendete sprachlich das Blatt zur „Generation Aufbruch“ (?).
In meinem nostalgisch besserwisserischen Balanceakt muss ich heute festhalten, dass das, was Jugend nun (wid)erfährt, kaum anders liegt, als eben rund 40 Jahre früher. 1980, ich war in meinem dreizehnten Lebensjahr, marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, im Kalten Krieg wurde es brisanter. Denn das Wettrüsten am Schauplatz geteiltes Europa zog in den achtziger Jahren auf westlicher Seite, vor allem in Deutschland, das Errichten von Raketenstützpunkten für die amerikanische Pershing II nach sich. Die couragierte Bevölkerung ging dagegen auf die Straße. Auf der Seite des Warschauer Pakts stand diesem Waffenmuskelspiel die SS-20 gegenüber, nuklearfähig waren beide Raketentypen.
Wir Jugendliche lebten in der Angst, dass geschieht, wie es im Songtext zu „Kalt und kälter“ des steirischen Trios STS heißt, „wenn die zwei sich streiten, druckt einer auf den Knopf/und die Bomb´n fallt mit Sicherheit uns ohne Warnung auf den Kopf.“
Pop, Rockmusik und vor allem Mainstreamkino zeichneten die Bedrohungen nach. James Bond definierte sich in seinen Abenteuern der achtziger Jahre über den russischen Feind als Weltretter. Neuer deutscher Pop & Rock sang gegen die Dauerbedrohung an und Nicole trällerte sich unspektakulär sitzend mit Gitarre 1982 mit „Ein bisschen Frieden“ zum Sieg für Deutschland beim Eurovision Song Contest. Man könnte diese Jahre zeitgeschichtlich, politisch, künstlerisch weitgehend umfassender porträtieren, sei´s durch die Kälte aus dem Osten, die in politischen Karikaturen gerne aus dem Rachen eines überdimensionierten russischen Bären gehaucht wurde, sei´s durch Lebensgefühle wie Aerobic oder Tanz-Musicalfilme, deren Aushängenummern es interessanterweise auch heute in die playlists von Radiostationen, auch von Ö3, schaffen, „What a Feeling!“, „She´s a Maniac“ aus „Flashdance“ beispielsweise. In irgendeinem Chat fiel zuletzt auch der nicht uninteressante Hinweis, dass sich in Mode (Karottenhose) und Haar-Styling (Vokuhila) vieles wieder einzustellen scheint, was wir mit den achtziger Jahren überwunden glaubten. Schulterpolster in Blazer und Sakkos mögen uns bitte erspart bleiben.
Worauf möchte ich hinaus? Niemand schwätzte uns Jugendlichen im Jahrzehnt vor dem Mauerfall und vermeintlich endgültigen Niedergang der kommunistischen Diktatur irgendetwas von Krise auf, wenngleich das politische, wirtschaftliche, kulturelle Leben bunt war und wirr und immer „krisenhaft“ oder „kritisch“, weil die wogenden Wellen des Weltgeschehens am Glücksmodell eines stabil ruhenden Lebens heftig anschlugen. Das Internet, allzeit präsent über die kleinen flachen Quaderfreunde in unseren Hosentaschen, rückt uns heute alles so nah vor die Nasen, die wir über die Touchscreens unserer Smartphones halten. Diese Weltwahrnehmung im Maß von kleinen Rechtecken vergrößert Sorgen und psychische Last.
„Wir“, sagt meine Liebste dazu mit gleicher Jugenderfahrung in den Achtzigern, „waren halt in der Literatur“. Klingt altklug. Ist es auch. Nur stimmt es. Denn wir suchten Ideen und Lösungen u.a. bei Karl Jaspers, Sören Kierkegaard, Hannah Arendt und Neil Postman. Eine bunte Mischung, ich weiß. In ihr waren wir unterwegs, in ihr fanden wir Halt, in ihr griffen wir nach Sicherheit.
Das, was seit 24. Februar 2022 in der Ukraine läuft, verstehe ich als großes, grausames, vernichtendes Finale dessen, was Europa und die Welt 2014 in der Annexion der Krim durch Russland übersehen haben. Zugleich schließt sich das Zeitfenster eines ausgesöhnt existenten Europa, nach knapp dreißig Jahren berechnet auf den Zerfall der Sowjetunion, unter Vorbotenaspekten der Lage auf der Krim verkürzt auf etwas mehr als zwanzig und es kehrt wieder, was überwunden geglaubt in der geopolitischen Lage doch bestehen blieb. Flashback also, nicht nur zu „Flashdance“.
Heinz Bude schreibt in „Gesellschaft der Angst“, bereits 2014 in der Hamburger Edition erschienen, von Generationen – und porträtiert damit die der Jugend heute? – die die Geschichte „nur als eine Geschichte von mehr Sicherheit, mehr Komfort, mehr Rechten und mehr Möglichkeiten kennen. Für die steht der größte anzunehmende Unfall noch aus. Mit individueller Tüchtigkeit und Umsicht ist gegen eine solche Gefahr nichts auszurichten. Das Schlimmste, was für alle passieren kann, liegt also nicht hinter, sondern vor einem.“ (S. 147-148)
Dann zählt er Beispiele auf, die die Menschheit forderten, Harrisburg, Tschernobyl, Sellafield bis Fukushima, Fragen von Gleichberechtigung, von Umweltschutz. Und schreibt uns gut zu, dass wir es doch zu Besserem gebracht haben: „Der Erfahrungsgrund, der den Erwartungshorizont bestimmt, ist für diese Nachkriegsgenerationen nicht mehr der Krieg, sondern ein womöglich trügerischer Frieden, der ganz andere Quellen der Angst mit sich bringt. (…) Dass Europa sich im Gefolge einer fortlaufenden Erweiterungspolitik der EU innerlich stabilisieren könnte, ist nach der Staatsschuldenkrise in der Euro-Gruppe und nach den Interventionen Russlands in der Ukraine nicht mehr zu erwarten (nochmals: Bude veröffentlichte diese Zeilen bereits 2014!; Anm.). Die Rhetorik gegenseitiger Beschuldigungen vermittelt vielmehr den Eindruck, als ob die Konstellationen des Zweiten Weltkriegs mit Vergeltungsängsten, Inferioritätskomplexen und Abhängigkeitsschicksalen wieder auf dem Tisch liegen würden.
Es treten tief sitzende affektive Schematismen zutage, die als Stereotype deshalb sehr schlecht bezeichnet sind, weil sie auf sehr reale Erfahrungen von Völkermord, Krieg und Vertreibung zurückgehen. (…) Demagogen westlicher und östlicher Art können damit allerdings nur deshalb zündeln, weil diese Ängste über Generationen tradiert werden und einen latenten Erwartungshorizont bilden.“ (S.148-149).
Irgendwie ist also immer Krise. In einer vermeintlich sicheren Welt wuchs unser Bedürfnis nach Sicherheit weiterhin, ohne dass diese uns letztgültig garantiert werden kann. An diesen Ängsten von uns allen müssen wir arbeiten, auch wenn es vorderhand wohl – individuell tüchtig und umsichtig, würde Bude sagen – nur darum gehen kann, zu lernen, mit ihnen zu leben.
Foto: Gelebte Sicherheitspraxis im Ausstellungsenvironment von Höhenrausch 2021 „Wie im Paradies“, Linz/Österreich
Kategorien:Politik, Soziales Handeln
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