Medien

Die Funktion von Analysen

Als geneigter Rezipient von Sportgroßereignissen im Fernsehen weiß ich schon länger, dass in jedem Sport heutzutage viel Wissenschaft steckt. Denn erst die Analyse im Studio von zumeist emeritierten Profi-Sportlern der jeweiligen Disziplin öffnet den Horizont für die wahren Dimensionen. Was steckt beispielsweise hinter einem Rechtsschwung in einem Riesentorlauf? Oder in der Flugbahn nach einem hoffentlich richtig erwischten Absprungpunkt am Schanzentisch? Da kann man sich stundenlang nach der sportlichen Aktion von nur einer bis maximal zwei Minuten Dauer in Erörterungen und Interpretationen ergehen.

So staunte ich nicht schlecht, als bei der jüngsten Fußballeuropameisterschaft Stürmer Marko Arnautovic, spezialisiert auf die Praxis des Forschungsgebiets Dribbling, auf den touchscreen-gesteuerten Monitoren der Studio-Analysten seiner mangelnden Präzisionsarbeit überführt worden ist. Sein rechter Fuß ragte zwanzig Zentimeter zu weit vor und also ins Abseits! Im Fußball, einer wahrlich nicht gering dotierten Leitwissenschaft des Sports, ist so ein Fehler von schwerwiegenden Konsequenzen. So fragt man sich mit der nachgereichten Analyse zugleich, warum Herr A. dies nicht im Spielverlauf entwickeln und in die Praxis eines korrekt platzierten Fuß umsetzen kann, wenn uns das die Experten locker vom Studio-Hocker erklären können. Wie hätte das Achtelfinalspiel gegen (den späteren Europameister) Italien geendet, wäre das 1:0 gültig gewesen?

Danach gescheit zu reden, beweist sich nun als das, was es ist: männliches Geschwätz, exzessiv gelebt im Alpinen Schilauf, im Schisprung, im Fußball und in der Formel 1.

Vor einer Woche – nachmittags zur Ortszeit, im mitteleuropäischen Sommer sehr früh – stieg eine Frau Doktor der Mathematik auf ihr Rennrad, um sich, wie sie selbst sagt, in analytischem Herangehen in ein Rennen zu begeben, das sie natürlich gewinnen wollte. Weil man als Sportlerin jedes Rennen gewinnen will, das man fährt. Sie fuhr in der noch nicht frei gegebenen Phase dem Feld hinterher, sah sich ihre Konkurrenz also in Ruhe von hinten an. Im Interview sagte sie, weil sie sich dabei gut aufwärmen könne, eben treten, was im Pulk schwierig möglich sei, wenn der nur so dahinrolle. Und weil ihr das zu dichte Umfeld ohnedies nicht behagt, setzte sie ab dem Moment der Freigabe des Rennens den Akzent und trat an. Als bisher nicht sonderlich bekannten „underdog“ ließen die großen Namen der Radszene die Österreicherin ziehen, wohl auf den Verdacht hin, wir fangen sie wieder ein, was will sie, außer sich ein wenig Szene setzen. Sie tat das dann knapp vier Stunden lang, unter anderem im Trio mit einer Israelin und einer Polin. Anna Kiesenhofer erkannte, dass sie stärker sei als die anderen beiden. Im Interview sprach sie offen und darin sehr sympathisch auch vom Leiden, wenn man 137 Kilometer mit dem Rad fährt. Sie litt, die anderen beiden taten dies aber mehr. Grund genug für Anna Kiesenhofer, 40 Kilometer vor dem Ziel in einer Steigung den beiden nur noch das Hinterrad zu zeigen, aus rasch wachsender Entfernung. Dann fuhr sie allein, so wie in ihrer bevorzugten Disziplin des Einzelzeitfahrens, einer sportlichen Sensation entgegen und holte olympisches Gold für sich, den Damen-Radsport, für Österreich.

Lieber ORF, bleibt uns mit euren Analysen danach bitte in Hinkunft gestohlen! Die bringen nur viele Konjunktive. Der Athlet hätte. Was haben wir von einer Geschichtsschreibung, die im Möglichkeitssinn bleibt? Nichts. Es zählen nur Analysen, die im Moment der sportlichen Praxis selbst unmittelbar Wirkung zeigen. Dieses Exempel wurde am 25. Juli 2021 von Anna Kiesenhofer statuiert.

Foto: Symbolbild für den wirksamen (Rad)Weg von Analyse im Sport – Pexels/Free Photo Library

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