Bildung

Jugend ohne Sinn

Je nachdem, wie man es bemessen will, hatten wir entweder am vergangenen Freitag den zweiten Jahrestag der Pandemie (25. Februar 2020: Infektionsfall Null in Österreich war eine Rezeptionistin eines Hotels in Innsbruck). Oder wir gehen über diese Zeitschwelle mit kommendem Samstag, als vor zwei Jahren der Infektionsfall Null für Oberösterreich gemeldet worden ist (5. März 2020: ein Gruppenreisender nach Rückkehr vom Schifahren in Südtirol). Solche Fakten brennen sich ins Gedächtnis. Zur letztgenannten Zeitmarke weiß ich noch genau, wie ich es erfahren habe, eben von einem Konzert im Brucknerhaus Linz nach Hause zurückgekehrt.

Zwei Jahre also stehen wir im Bann des Pandemiegeschehens mit all seinen Maßnahmen, den Appellen, den Veränderungen von Regeln, auch dem Wirrwarr. Resilienz ist gefordert. Und Durchhaltevermögen. Beides ist für Jugendliche schwierig, denen sich diese Zeitstrecke in eine gefühlte Unendlichkeit dehnt. Zwei Jahre, das sind für 14-Jährige beim Einstieg in diese Lebensphase ein Siebtel ihres bisherigen Lebens, wenn man aufs bewusste Erleben setzt, dann ein Fünftel; bei 20-Jährigen ein Zehntel oder ein Achtel.

Schon vor einem Jahr, als der März wiedergekehrt war und insbesondere jener Tag, an dem ein Jahr zuvor Schule umgestellt worden war, was amtlich ortsungebundener Unterricht und umgangssprachlich schicker „Distance-Learning“ heißt, war weithin zu beobachten, wie dieser vollendete Jahreslauf den Jugendlichen zusetzte. Dabei war zuvor schon einiges geschehen, was im System Schule sichtbar geworden war. Es wurde auch aufgezeigt und dennoch brauchte es fünf Monate (von Schulbeginn im Herbst 2020 bis Jänner 2021), bis es bei den Entscheidungsträgern als Erkenntnis angenommen werden konnte. Unterstützt wurde dies unter anderem durch eine empirische Untersuchung der Psychologin Christiane Spiel von der Universität Wien. Für die Jugendlichen der Oberstufe galt bis dahin Distance-Learning als „leicht bewältigbar“. Doch der Entzug des sozialen Umfelds Gleichaltriger am Ort Schule, zusätzlich auch der Lehrerinnen und Lehrer und vor allem dessen, was Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann fürs zentrale Element von Schule in Präsenz hält, nämlich gemeinsam an einem Thema zu arbeiten, hatte schwerwiegende Folgen.

So manche Jugendliche verloren, ortsungebunden unterrichtet, die Antwort auf die Sinnfrage zuerst des Schulbesuchs, dann auch überhaupt des Lebens. Schon im September 2020 zeigten sich die fachmedizinischen Versorgungseinrichtungen für Jugendpsychiatrie und Essstörungen komplett ausgelastet. Dass nun erst vor zehn Tagen ein bereits im vergangenen Sommer 2021 beschlossenes Budget von 13 Millionen Euro für die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Gestalt von 7500 Therapieplätzen produktiv gemacht worden ist, konkret ab Ende März 2022 wohlgemerkt, ist viel zu spät und zu wenig obendrein. Der Bedarf liegt bei mehr.

Es sind für Jugendliche im Verlauf von zwei Jahren Pandemie Dinge passiert, die in vielen Jahren repariert werden müssen. Zuerst wurden sie gebeten, die Alten zu schützen, sich deswegen nach Hause zurückzuziehen, auch in der Familie Angehörige der vorvorigen Generation zu meiden. Das leisteten die Jugendlichen mit Bravour. Der unbekümmerte Sommer 2020 brachte ihnen die nicht belegbare Nachrede, sie hätten das Virus wieder ins Land gebracht und verteilt. Eine Schuldzuschreibung für die Herbstwelle 2020 sozusagen, als Schule neuerlich via PC, Laptop und Smartphone Einzug ins Jugendzimmer hielt und sich dort zeitlich extensiv ausbreitete: Schule hat die Privatheit der Jugendlichen zu Hause unter Beschlag genommen, die eigenen vier Wände verwandelten sich ins permanente Klassenzimmer. Schule hörte nicht mehr auf, sie erstreckte sich zeitlich bis in die Nacht, nicht wegen überbordender Aktivitäten von Lehrerinnen und Lehrern. Die Anstrengungen von Online-Unterricht wollen verdaut werden, Aufgaben werden erledigt und von Lehrenden abends (wie beim Präsenzunterricht auch, aber ohne sofortige digitale Zustellung) verbessert. So mancher Jugendliche vernimmt dann das akustische Signal des Posteingangs, vielleicht eine halbe Stunde vor Mitternacht, und das Gewissen treibt sie/ihn ans Gerät. Notwendige Überarbeitungen werden im Sinn einer Entlastung fürs Zeitmanagement am Folgetag sogleich erledigt. Das geht bis in frühe Morgenstunden. Das Schlafdefizit wächst. Ein Teufelskreis. Schule hat im Leben von Jugendlichen alles in Dominanz übernommen. Befreiungsschläge erfolgen in Gestalt von Schulabbrüchen. Es sind, was ich weiß, wenn ich mich im Kreis von Schulleitungskolleginnen und -kollegen umhöre, viel zu viele.

Nun ist die Jugend, eine Lebensphase, die die sozialwissenschaftliche Forschung mit dem Alter von 14 beginnen lässt und sie bis zum Alter von 29 (!) definiert, in der es darum geht, sich auszuprobieren, sich stets neu zu definieren, Identitätssuche über das permanente Kostümieren von sich selbst mit sozialen Rollen und zugehörigem Habitus. Für dieses Experimentierfeld muss ich mich als Jugendlicher auf die Stabilität des gesellschaftlichen Umfelds verlassen können, die – wir wissen es – durch die Maßnahmen des Pandemiemanagements außer Kraft gesetzt worden ist. Die Dominanz des Themas in den Medien, dazu die Bilder in unendlichen Schleifen, zeigten, dass man sich hier nicht mehr auf einen gesellschaftlichen Sicherheitsrahmen verlassen kann, innerhalb von dem ich mich (er)finden darf. Das führt auch zu verschiedenen Formen von Eskapismus, den Jugendliche suchen. Zu den harmloseren Varianten zählt dabei die Flucht in fiktive, durch Buchstaben, Wörter, Sätze gesicherte Räume von Fantasy-Literatur oder in Bildwelten von Filmen und Streaming-Serien. Was soll man auch sonst tun, wenn das Leben das Sparring mit Gleichaltrigen ausschließt und auch den Platz für jene Experimente nimmt, die ins Alter der Jugend gehören? In einer Reportage des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ zeigte eine Redakteurin die Paradoxien der Situation an zahlreichen Alltagsabenteuern auf, die für Jugendliche seit zwei Jahren entfallen und zu erzwungenem Rückhalt in der Familie führen, von der man sich in der Pubertät abzunabeln versucht. Dann kann es schon einmal passieren, dass man die erste Zigarette nicht irgendwo verstohlen an einem Ort raucht, den sich die peer-group im öffentlichen Raum erobert hat, sondern gemeinsam mit Papa am Balkon.

Wir gehen in diesen Tagen also ins dritte Jahr der Pandemiebewältigung und leben mehr denn je in der Zerfahrenheit von politischen Entscheidungen und ihrer wirklich schlechten Kommunikation, wie beispielsweise der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier nicht müde wird, den österreichischen Politikern vorzuhalten. Immer noch zählen dabei Kinder und Jugendliche zu jenen Zielgruppen, die inadäquat in ihren Bedürfnissen gehört, erkannt und betreut werden. Vorrangig gehört dazu das Stiften von Sinn fürs Leben, von dem der Bildungsweg nur einen Teil darstellt. Das zu leisten, ist die Aufgabe von uns allen.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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