Bildung

Mit Sinn und Bestimmung zu Neuem

Auszug aus meiner Rede in corona-bedingter Doppelfunktion – Schulleiter und Vorsitzender der Reifeprüfung – an der HBLA für künstlerische Gestaltung, Linz (Oberösterreich), gehalten am 29.6.2020 für 5A und am 30.6.2020 für 5B:

Als Schulleiter möchte ich mit Ihnen, geschätzte Absolventinnen und Absolventen, eine kurze Reise zurück in jene Unterrichtsstunde im Oktober unterfangen, als ich Sie über die Modalität der Reifeprüfungen und eine Menge Termine informiert habe. Sie erinnern sich gewiss an das gut gefüllte DINA4-Blatt, das eine ganze Reihe von Meilensteinen auf dem Weg zu einem Feiertermin, eigentlich am Abend des 19.6.2020, festgelegt hat.

Zu dieser Zeit hatten wir nicht die leiseste Ahnung, dass diese Form von geplanter Wirklichkeit Mitte März durch etwas sehr kleines unsichtbares, aber überaus Wirkungsvolles außer Kraft gesetzt werden wird. Eine andere Prüfungswirklichkeit musste konstruiert und dann umgesetzt werden. Mir ist als Schulleiter sehr leid um den Verlust Ihrer Präsentationen und Diskussionen Ihrer Diplomarbeiten und auch um die Vernissage und Ausstellung „Open Minded“, letztere haben wir mit einer digitalen Präsentation aufzufangen versucht.

Mir ist als Schulleiter auch sehr leid um den Verlust der mündlichen Prüfungen, nicht wegen der Prüfungen an sich, schon auch, aber insbesondere aus Gründen des Rituals, der Inszenierung, in der Sie dabei auftreten und die als solche einen sehr wesentlichen Bestandteil von Matura ausmacht. Ja, Matura – da geht es auch ein wenig um show-time am Abschluss einer Schullaufbahn! Unsere „Show 2020“ bestand im Ergänzungsunterricht und der Durchführung der schriftlichen Prüfungen hier im Turnsaal unter den gegebenen und einzuhaltenden Hygienerichtlinien. Der unsichtbare, der bedeutendste Teil der „Show“, den erbrachten Sie für sich allein, zu Hause in Ihrer Vorbereitungszeit, in sieben Wochen, in denen Sie weitgehend auf sich selbst gestellt waren, d.h. ohne soziale Kontakte in Sachen Lernen für die Reifeprüfung. Eine ganz außerordentliche Leistung!

Ich sprach von der geplanten Wirklichkeit der Reifeprüfung, und jetzt wechsle ich in die Rolle des Vorsitzenden, in der es mir bisher, wenn ich diese Aufgabe an anderen Schulen erfüllen durfte (vor sieben Jahren habe ich das übrigens hier an dieser Schule gemacht!), schon immer auch darum ging, Ihnen ein paar Gedanken mitzugeben. Vom Vorsitz soll mehr bleiben als nur eine Unterschrift auf dem Maturazeugnis.

In Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ begleitet man mit der Hauptfigur Ulrich einen Denker durch eine Zeit des Umbruchs. Der Roman spielt in der niedergehenden österreichisch-ungarischen Monarchie, einem „Kakanien“, wie Musil dies nennt. Ulrich pendelt mit seinen Gedanken zwischen den Wirklichkeiten und den Möglichkeiten, eine philosophische Bewegung, die aktueller kaum sein könnte, eine Haltung, geboten auch für unsere Gegenwart heute.

Ich möchte Ihnen einen kurzen Ausschnitt aus dem Beginn des Romans vorlesen, er ist sehr bekannt. Es ist der Beginn von Kapitel 4, das überschrieben ist mit der Zeile: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“

Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor [gemeint ist hier der Vater der Hauptfigur; Anm.] immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. (…)

Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, S. 16-17, Orthographie aktualisiert)

Mir ist es ein Anliegen, in Ihnen eine Verantwortung zu wecken. Mit diesem Weckruf allein ist es allerdings nicht getan. Gemäß den allgemeinen Bildungsaufgaben des Lehrplans der humanberuflichen Schulen haben wir Lehrerinnen und Lehrer Sie auch an eine Rolle als „active citizen“, als wachsame Staatsbürgerin und wachsamen Staatsbürger herangeführt. Was heißt dieses „active citizen“?

Vielleicht heißt es das, was in diesem Schuljahr beispielgebend passiert ist; Sie erinnern sich an den Schuljahrbeginn, Ende September gingen wir im Rahmen der „Fridays for Future“ auf die Straße, Mitte Dezember begaben wir uns ganz in den Möglichkeitssinn und wir suchten Maßnahmen gegen den Klimawandel, die wir selbst einzeln, in der Klasse, als Schule setzen können. Mitte März verlangte das Virus von uns, durch eine sich plötzlich öffnende Tür mit festem Rahmen zu gehen, wir mussten die Erfahrungen der gleichen Möglichkeiten, wie Schule in einem zweiten Semester einer Abschlussklasse funktioniert, verlassen.

Nun, dreieinhalb Monate später, neigen wir dazu, in allen gesellschaftlichen Bereichen Positionen einer vermeintlich gesicherten Normalität einzunehmen, so wie wir diese vor Corona als Forderungen des Wirklichkeitssinns gekannt und gelebt haben.

Wer den Möglichkeitssinn besitzt, der erfindet. Schreibt Robert Musil. Der Möglichkeitssinn definiert sich als Fähigkeit, was ebenso gut alles sein könnte. Der Möglichkeitssinn baut auf schöpferischer Anlage.

Wer sonst, wenn nicht auch Sie, sind diese Möglichkeitsmenschen? Durch Ihre Persönlichkeit, durch Ihre Bildungslaufbahn in den vergangenen fünf Jahren hier an unserer Schule, in dieser so genialen Verknüpfung von Berufsbildung und Kreativität?

Entdecken Sie das „feinere Gespinst“ in Ihnen und seien oder werden Sie sehr gerne in den Augen anderer Phantast, Träumerin oder Träumer, Schwächling, Besserwisserin oder Besserwisser, Kritikerin oder Kritiker! Wir brauchen Sie, um in unserer gegenwärtigen Wirklichkeit die Möglichkeiten zu erwecken. Mit Sinn und Bestimmung dürfen, sollen, müssen diese Möglichkeiten zu neuen Wirklichkeiten werden. Nur das bringt uns weiter. Nur damit bringen wir uns weiter.

Foto: Maturazeugnis – Verleihung als Abholstation in Zeiten von Corona

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